Die Rolle des Lehrers im neuen Jahrtausend

von Prof. Hannele Niemi, Helsinki (Referat gehalten bei der SIESC-Tagung 2000 in Ljubljana/Laibach) (aus dem Englischen übersetzt von Mag. Wolfgang Rank)

1. Die Komplexität unseres gegenwärtigen Lebens

Die Zeit, in der wir jetzt leben, wurde von vielen Autoren als postmodern, spätmodern oder hochmodern beschrieben. Alle diese Ausdrücke erwecken den starken Eindruck, dass das typische Phänomen unserer Zeiten ständige Veränderung, kulturelle Zersplitterung und anwachsende Verschiedenheiten in allen Bereichen des Lebens sind. Die Strukturen der Familien und des Arbeitslebens haben eine gewaltigen Änderungsprozess durchgemacht. Wir beobachten rasche und nicht vorhergesehene Änderungen in Wirtschaftsleben, gesellschaftlichen Strukturen, Produktion und Informationstechnologien. Diese Phänomene wirken sich auf das Leben der Studenten und die Bildungssysteme in allen europäischen Ländern aus.

Dieser Vortrag konzentriert sich darauf, ein Bild der ablaufenden Haupttrends zu zeichnen, die großen Einfluss auf die Erziehung in vielen europäischen Ländern haben. Nach einer Hervorhebung dieser Megatrends ist es meine Absicht zu fragen, was sie für Lehrerarbeit und Lehrerbildung bedeuten.

Die Veränderungen in unserer Welt können als Megatrends auf den drei Ebenen unseres Lebens beschrieben werden: gesellschaftliche, kulturelle und persönliche Ebene. "Gesellschaft" wird für die gesetzmäßigen Ordnungen verwendet, durch welche die Mitglieder ihre Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Gruppen regeln und dadurch Solidarität sichern. Der Begriff "Kultur" wird für den Vorrat an Wissen verwendet, aus dem die Teilnehmer an der Kommunikation sich mit Erklärungen versorgen, wenn sie zu einem Verständnis von irgendetwas in der Welt kommen (Habermas, 1987, S. 138). Unter "Person" verstehen wir die Kompetenzen, die ein Subjekt fähig machen zu sprechen und zu handeln, die es in die Lage versetzen, an Prozessen zur Gewinnung von Verständnis teilzunehmen und dadurch seine eigene Identität festzulegen. Diese drei Ebenen überlappen einander, aber sie bieten eine Möglichkeit, die Herausforderungen an den Lehrberuf und die Lehrerbildung zu klären.

2. Megatrends auf der gesellschaftlichen Ebene

Veränderungen auf der gesellschaftlichen Ebene sind wichtige Fragen für die Lehrerbildung, wenn Lehrer für die zukünftige Bildungsarbeit vorbereitet werden. Lehrer haben eine wichtige Rolle darin, wie sie ihre Studenten in unsicheren gesellschaftlichen Umständen führen. Die folgenden Beschreibungen spiegeln nur einige Haupttrends wieder und dienen als Beispiele dafür, was für verschiedene Arten von Veränderungen vor sich gehen.

Globalisierung

Weltweite Märkte und multinationale Angelegenheiten sind Wirklichkeiten, die Einfluss auf viele Bereiche des täglichen Lebens haben. Informationstechnologie und Telekommunikation haben die Welt in ein "elektronisches Weltdorf" umgewandelt. Die Globalisierung hat den Weg gebahnt für ungeheure Möglichkeiten für weltweite Märkte im Geschäftsleben und in technologischen Bereichen, aber zur selben Zeit trägt sie bei zu ernsten Krisen auf weltweitem Niveau. Viele Schwierigkeiten der Menschheit, z.B. Umweltprobleme und Armut, Hunger, Gewalt und Flüchtlinge, sind weltweit.

Ulrich Beck hat über eine "Risikogesellschaft" gesprochen. In diesem Zusammenhang bedeutet Risiko nicht mehr nur persönliche Bedrohungen, sondern auch weltweite Gefahren. Er beschreibt, wie in einer früheren Zeit das Wort "Risiko" eine Bedeutung von Tapferkeit und Abenteuer beinhaltete, nicht eine Drohung der Selbstzerstörung alles Lebens auf der Erde wie jetzt. Als Beispiel erwähnt er, dass der Tod der Wälder heute weltweit geschieht, als unausgesprochene Folge der Industrialisierung, mit weltweiten gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen (Beck, 1992, S. 20-21). Risiken "besitzen eine ihnen innewohnende Tendenz zur Globalisierung" (Beck, 1992, S. 36).

Risiken scheinen auch die Klassengesellschaft zu verstärken, nicht zu beseitigen (Beck, 1992, S. 35). "Einige Leute sind durch die Verteilung und das Anwachsen der Risiken stärker betroffen als andere, d.h., gesellschaftliche Risikopositionen entstehen. In einigen ihrer Dimensionen folgen diese den Ungleichheiten von Klassen und Schichtenpositionen, aber sie bringen eine grundsätzlich verschiedene Verteilungslogik ins Spiel. Die Risiken der Modernisierung treffen früher oder später auch die, die sie erzeugen oder von ihnen profitieren. Sie enthalten einen Bumerangeffekt, der das Muster der Klassen- und Nationalgesellschaft aufbricht. Zur gleichen Zeit hat das Risiko neue internationale Ungleichheiten erzeugt, erstens zwischen der Dritten Welt und den Industriestaaten, zweitens unter den Industriestaaten selbst." (Beck, 1992, S. 23)

Die Globalisierung hat uns auch auf weltweite Gewalt und Kriminalität aufmerksam gemacht. Organisiertes Verbrechen, z.B. das Drogengeschäft, das illegale Waffengeschäft und die Mafia, haben riesige Gesamtbudgets. Gewalt ist grausamer geworden als je zuvor. Kriminalität ist eine Realität in unserer Welt, die man nicht ignorieren kann.

Entgegengesetzte Trends gehen zur selben Zeit vor sich

Neben Integration und Globalisierung vollzieht ich eine gegenläufige Tendenz zur Aufteilung und Zersplitterung. Die Integration Europas spiegelt Trends wieder, die in einer weltweiten Gemeinschaft vor sich gehen. Handelsbündnisse, z.B. NAFTA und ASEAN, sind auch konkrete Indikatoren der selben Art von Integrationsprozess. Die Aufteilung früherer Staaten, z.B. der Sowjetunion, ist eine Realität. Viele andere Länder stehen einer starken Zersplitterung auf nationaler Ebene gegenüber.

Dezentralisierung und Zentralisierung sind ebenfalls gleichzeitige Prozesse. Viele Länder haben sich in ihrer Wirtschaft, Bildung und Gesundheitspflege von einer zentralisierten Politik der Dezentralisierung zugewendet. Das bedeutet, dass Macht auf lokale Ebene übertragen worden ist. Doch werden zur selben Zeit neue Mechanismen der Macht in Form von Verantwortlichkeit, Standards und erfolgsabhängigen Zuweisungen die Vorgangsweisen vereinheitlichen und Macht unmerklich aus den Händen der lokalen Entscheidungsträger zu zentraler Verwaltung und Beamten verlagern. Giddens spricht davon, die Demokratie zu demokratisieren. Seiner Meinung nach "kommt die Krise der Demokratie daher, dass sie nicht demokratisch genug ist" (Giddens, 1998, S. 71). Er spricht über doppelte Demokratisierung, was heißt, dass die Dezentralisierung nicht ein Einbahnprozess ist. Es setzt die Erneuerung der Bürgergesellschaft voraus, in welcher der Staat und die Bürgergesellschaft als Partner handeln sollten, jeder, um den anderen zu ermöglichen, aber auch, um als Kontrolle zu wirken (Giddens, 1998, S. 79). In einer globalen Welt ist die Frage Nationalstaat und Bürgergesellschaft entscheidend. Demokratie bedeutet etwas anderes als den althergebrachten Wahlvorgang einer Nation. Demokratie sollte den Leuten wirklichen Raum und Werkzeuge geben, mehr aktiv zu werden und teilzunehmen.

Wachsende Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Ausschluss

Gesellschaftlicher Ausschluss bedeutet, dass einige Leute in ihrer eigenen Gesellschaft fremd werden. Als Folge von Armut, Mangel an notwendiger Gesundheitspflege und Nahrung oder Verlust des Arbeitsplatzes verlieren sie ihre Möglichkeiten, auszuwählen und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Sehr junge Kinder können von den Bildungswegen ausgeschlossen werden. Wir dürfen das Problem nicht als ein Versagen der Kinder sehen. Es ist eine Frage der tiefen Probleme in den Strukturen der Gesellschaft und der Bildungssysteme. Es besteht ein wachsendes Bedürfnis, sich um die Lernenden zu bemühen, die dem Risiko ausgesetzt sind, zu versagen und aus den Schulen auszusteigen, und die Kinder zu unterstützen, die keine realistischen Möglichkeiten haben, in Schulen zu studieren. (Weißpapier, 1995)

Die Gefahr der Ausschlusses wächst weltweit. Ganze Segmente der Bevölkerung in verschiedenen Ländern sind in Gefahr, tatsächlich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden. Die wichtige Botschaft, auf die von vielen Indikatoren hingewiesen wird, ist die, dass es eine Verbindung zwischen Bildung, Beschäftigung und beruflichem Erfolg gibt. Die gut Gebildeten finden Arbeitsplätze, die sie mit mehr Fortbildung versorgen, während die Ungebildeten von den Möglichkeiten ihre Fertigkeiten zu verbessern ausgeschlossen werden.

3. Trends auf kultureller Ebene

Aus den Trends auf kultureller Ebene werden drei bedeutende Phänomene vorgestellt: lebenslanges Lernen, die Informationsgesellschaft und Multikulturalität. Diese werden alle als Schlagwörter verwendet, um unsere Zeit zu beschreiben, und bewirken gewaltige Herausforderungen für die Lehrerarbeit und die Lehrerbildung.

Lebenslanges Lernen als gemeinsame Metapher

In den europäischen Berichten der Neunzigerjahre (Weißpapier, 1995; Cochinaux & de Woot, 1995; OECD, 1998) wird Lernen mit hoher Qualität allgemein als das Ziel der Bildung akzeptiert. Erziehung und Ausbildung sind äußerst wichtig für die geistige Kapazität der Bürger und auch für das Selbstbewusstsein, das Gefühl des Dazugehörens, das Weiterkommen und die Erfüllung des Individuums. Bildung, so wird betont, ist in einer Schlüsselposition dafür, es den Leuten möglich zu machen, ihre Zukunft und ihre persönliche Entwicklung in die Hand zu nehmen. Die Leute sollten lernen, ihre Möglichkeiten für eine Verbesserung in der Gesellschaft und für ihre persönliche Teilnahme an Macht zu ergreifen. (Weißpapier, 1995)

Das Bildungssystem ist der wichtigste bestimmende Faktor, Möglichkeiten für lebenslanges Lernen anzubieten, aber es kann für sich nicht Teilnahme an Macht garantieren. Man erwartet von den Lernenden, die Verantwortung für ihren eigenen Fortschritt zu übernehmen. Man erwartet von den Lernenden, ihre eigene Lernumgebung aufzubauen, wobei sie traditionelle Informationsquellen und Lernmaterialien und moderne Kommunikations- und Informationstechnologie benutzen. Der Lernprozess sollte ein aktiver Prozess sein, in dem der Lernende der Eigentümer ist und Initiativen setzt. Zur selben Zeit gibt es eine deutliche Schichtung in vielen Gesellschaften. Es gibt ein paradoxes Dilemma zwischen offiziellen Bildungszielen und der Realität der Fähigkeiten der Menschen. Immer mehr Kinder sind in Gefahr, von den Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen zu werden.

Die Szenarien betonen die Initiative des Lernenden. Lehrer und Lehrerbildung werden als Schlüsselfaktoren gesehen, das aktive Lernen in sich verändernden Gesellschaften zu fördern.

Das Erreichen von aktivem Lernen ist jedoch nicht leicht oder selbstverständlich. Es gibt ein wachsendes Dilemma zwischen dem Bedürfnis, ein aktiver und initiativer Lernender zu sein, und der Realität in den Gesellschaften. Monica Bockaerts (1997), als Erforscherin von selbstgesteuertem Lernen, beschreibt die heutige Situation in Schulen und Gesellschaften in folgender Weise: "Die meisten Klassenzimmer sind noch immer von Studenten bevölkert, die ihr Lernen nicht selbst steuern, und die meisten Lehrer sind noch nicht ausgerüstet, Studenten in sich selbst steuernde Lernende zu verwandeln. In den meisten Fällen steuern und leiten die Lehrer noch immer den Lernprozess, eine Situation, die Studenten nicht dazu einlädt, ihre kognitiven oder motivierenden Fertigkeiten der Selbststeuerung zu verwenden oder zu entwickeln. Gewöhnlich erwartet man von den Studenten, zu reproduzieren und die neue Information anzuwenden, die der Lehrer vorgestellt oder zugänglich gemacht hat." (S. 162)

Es scheint ein Dilemma zwischen den Zielen auf Systemebene und den Prozessen auf persönlicher oder Lebensweltebene zu geben. Wir haben das Bedürfnis nach einer neuen Kultur der Lehrer, der Schulen, in der Bildungsverwaltung und in den Lehrerbildungseinrichtungen, um verschiedene Lernende in den Gesellschaften zu unterstützen, welche die Fragen der kulturellen und institutionellen Veränderungen in Angriff nimmt. Eine Schlüsselfrage für Schulen und Lehrer ist, wie sie Lernen von hoher Qualität unter den Lernenden fördern, besonders die Fertigkeiten des aktiven Lernens.

Informationsgesellschaft

Neue Technologie hat reiche Möglichkeiten geschaffen, Information zu suchen, handzuhaben und zu erzeugen. Neue Technologie schafft auch offene Lernumgebungen, die gewaltige Lernmöglichkeiten bieten – wenn ein Lernender diese Möglichkeiten nützen kann. Neue Technologie erzeugt Innovationen, die Veränderungen im wirtschaftlichen Leben, in gesellschaftlichen Strukturen und der Produktion beschleunigen. Das ernste Problem ist, dass es viele Leute gibt, junge und alte, die nicht die Möglichkeiten oder die Bereitschaft für neue IKT haben. Es gibt eine wachsende Kluft zwischen denen, die es können, und denen, die es nicht können. Das ist als ernste Bedrohung der Demokratie in den Gesellschaften erkannt worden. Technologische Innovationen, zusammen mit gesellschaftlicher, politischer und kultureller Zersplitterung, erzeugen neue Formen des Wissens und der Kultur. Wir müssen uns der Funktionsstörung der Informationsgesellschaft bewusst sein, und wir können unsere Augen nicht vor der Zukunft verschließen, in welche die neue Generation eintritt. Sie wird viel komplizierter sein, mit vielen Wertsystemen und voll von Spannungen und Dilemmata.

Die IKT schaffen auch eine neue Realität, in der Reales und Virtuelles vermischt sind (Aronowitz & Giroux, 1991, S.66). Die Führer der europäischen Industrie drücken ihre Sorge um die heutigen und zukünftigen Entwicklungen aus: "Quer durch Europa sind 120 Millionen Kinder und Jugendliche auf dem Bildungsweg. In letzter Zeit haben sich ihre Bezugspunkte beträchtlich verändert. Da sie in einer Welt aufwachsen, in der traditionelle Autorität weniger klar und genau ist, entwickeln sie sich in einer Gesellschaft, die von dem visuellen Bild beherrscht wird, dass durch IKT vermittelt wird, manchmal in einer ungeordneten und unkontrollierten Form .... Können diese sich rasch entwickelnden Technologien, die weithin verwendet, aber nicht immer gut verstanden werden, jedem Jugendlichen und allgemeiner gesprochen jedem Lernenden den Schlüssel anbieten, ihre Umwelt besser zu verstehen, und die Fähigkeit, in der lernenden Gesellschaft ständig voranzukommen? Können sie jedem Individuum helfen, ohne Rücksicht auf seinen gesellschaftlichen und bildungsmäßigen Hintergrund, sein volles Lernpotenzial zu verwirklichen, um den Herausforderungen der Zukunft die Stirn zu bieten?" (ERT, 1997, Vorwort)

Multikulturalität

Während die Frage der Verschiedenheit der Völker und des kulturellen Unterschieds eine lange Geschichte hat, hat sie nun als Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität im Kern der menschlichen Existenz eine neue Dringlichkeit erhalten, die nach einer Lösung verlangt. In vielen Ländern ist das Ergebnis ethnische Auseinandersetzung, statt dass es eine pluralistische kulturelle Demokratie hervorgebracht hätte (Smolicz, 1997, S. 8). In den meisten Ländern müssen einige schwierige Fragen gelöst werden. Z.B. wie man Bedingungen schafft, unter denen "alle Gruppen und Mitglieder der Gemeinschaft harmonisch zusammenleben und

-arbeiten können, voll und wirksam teilnehmen und ihre Fertigkeiten und Talente zum Vorteil des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Gemeinschaft anwenden können, und ihr besonderes kulturelles Erbe beibehalten und zum Ausdruck bringen können" (Arnold, 1997).

4. Trends auf der persönlichen Ebene

Die postmoderne Zeit hat gemeinsame Geschichten und Traditionen abgebaut, die früher unsere Identitätsbildung unterstützt haben. Wir leben in der Mitte einer Bildung von Unterschieden und Bruchstücken (Giddens, 1991, S. 84). Das Grundvertrauen wird jedoch im Kind als Teil davon aufgebaut, eine Welt zu erfahren, die Zusammenhang, Fortdauer und Verlässlichkeit besitzt (Giddens, 1991, S. 66). Ein großer Widerspruch besteht zwischen den Bedürfnissen eines heranwachsenden Kindes und unserer ständig wechselnden Umgebung. Es besteht die Gefahr, dass dann, wenn eine äußere Umgebung voll von Veränderungen ist, die Person wie ein Besessener voreingenommen ist durch die Angst vor möglichen Risiken für seine oder ihre Existenz und gelähmt im Hinblick auf praktisches Handeln (Giddens, 1991, S. 53). Lehrer sollten die Bereitschaft haben, die Identitätsbildung der Studenten zu unterstützen. Das heißt Studenten zu ermutigen, Fragen wie z.B. folgende zu stellen: Wer bin ich? Was sind meine Wurzeln? Wohin gehe ich? Wer braucht mich?

Viele früheren Traditionen sind zerbrochen. Identitätsbildung verlangt vom Individuum, sich selbst als Individuum zu konstituieren, zu planen, verstehen, entwerfen und handeln – oder die Folgen zu erleiden. Es bedeutet eine gewählte Lebensbeschreibung, eine "do-it-yourself Biographie" (Beck, 1994, S. 15-16). Aber der Individualisierungsprozess ist viel komplizierter. "Die befreiten Individuen werden abhängig vom Arbeitsmarkt und deswegen abhängig von Bildung, Konsum, Regelungen und Unterstützung durch den Wohlfahrtsstaat, Verkehrsplanung, Konsumangeboten und von Möglichkeiten und Moden in medizinischer, psychologischer und pädagogischer Beratung und Vorsorge." (Beck, 1992, S. 130)

5. Was bedeuten die Megatrends für die Bildung?

Alle diese Megatrends stellen gewaltige Herausforderungen für alle Ebenen der Bildungssysteme dar. Sie stellen neue Ansprüche an Schulen und Lehrer, die das aktive Suchen nach neuen Partnerschaften zwischen Bildung und den umgebenden gesellschaftlichen und kulturellen Situationen notwendig machen. Sie verlangen auch danach, zwei wichtige Fragen über die Lehrerbildung zu stellen: Zu welcher Art von Rolle sollten Lehrer gebildet werden und wie kann Evaluation einen konstruktiven Dienst in der Lehrerbildung leisten?

5.1. Die Rolle der Lehrer in der Auseinandersetzung mit der Komplexität der Welt

Die Bedeutung von Lehrern von hoher Qualität ist in allen Ländern gefordert worden. Es gibt jedoch sehr unterschiedliche Stimmen in Hinblick darauf, welche Lehrerrolle als wertvoll in einer Gesellschaft gesehen wird. Eine Kernfrage ist, was die Stellung der Lehrer als Berufsgruppe ist.

Lehrerbildung ist immer wertgebunden, aber sie kann in der politischen oder bildungspolitischen Diskussion als ein wertfreies Unternehmen vermarktet werden. Diskussionen über Lehrberuf und Lehrerbildung haben verwirrenderweise viele Gesichter. Linda Darling-Hammond (1990, S. 31) ist z.B. sehr kritisch bei der Verwendung des Ausdrucks "Professionalität". Sie argumentiert: "Tatsächlich ist selbst die Definition von "Professionalität" im Lehren in den öffentlichen Schulen auf den Kopf gestellt worden. Statt ein hohes Niveau von Ausbildung und auf die Praxis angewandtes Wissen zu bezeichnen, das vor allem den Bedürfnissen der Klienten in intellektuell ehrlichen Formen dienen muss, wird der Ausdruck von den meisten politisch Tätigen und Verwaltungsbeamten verwendet, um eine bedingungslose Befolgung von Handlungsanleitungen auszudrücken. Evaluationskriterien betonen gutes Soldatentum und Übereinstimmung mit Bezirkspolitik mehr als kenntnisreiche Befürwortung von passenden Lehrmethoden. Der "professionelle" Lehrer ist im allgemeinen Sprachgebrauch eher einer, der "die Dinge richtig macht", als einer, der "die richtigen Dinge macht".

John Smyth (1995, S. 1) hat die Kennzeichen einer niedrigen und unprofessionellen Stellung der Lehrer beschrieben. Ihnen gemeinsam ist ein Druck, den Lehrer zum nicht autonomen Instrument politischer Ziele zu machen. Typische Eigenheiten sind die folgenden Indikatoren:

Die andere Auffassung des Lehrberufs möchte den Beruf der Lehrer und ihre Stellung in der Gesellschaft heben. In der Kritischen Theorie sieht man die Lehrer als Teil der Gesellschaft und ermutigt sie eine emanzipatorische Rolle in ihrem Beruf zu übernehmen (Carr & Kemmis, 1986; Shor, 1992; Liston & Zeichner, 1987; Tabachnick & Zeichner, 1991; Niemi, 1996a). Lehren wird als echter Beruf gesehen, der eine anerkannte Stellung in der Gesellschaft hat. Um in der Professionalität zu wachsen, müssen die Lehrer eine Kultur der Kritik und Teilnahme im Beruf entwickeln. Forschung über die Befähigung der Lehrer hat die Lehrer ermutigt, ihre Stimme zu erheben und an den Bildungsdiskussionen teilzunehmen.

W. Carr und A. Hartnett haben die ernste Frage über die Aufgaben der Lehrer in einer Gesellschaft aufgeworfen. Sie sehen die Bedeutung der Lehrer als eindeutig wichtig beim Einrichten und Erhalten einer Demokratie in einer Gesellschaft. Deswegen sollte nach Carr und Hartnett (1996) die Lehrerbildung auf den folgenden Voraussetzungen beruhen:

  1. Lehrerbildung muss mit allgemeineren gesellschaftlichen und politischen Theorien über Themen wie Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Legitimität verbunden werden. Sie muss die Konsequenzen einer auf Prinzipien beruhenden Sicht von Demokratie nicht nur für die Bildungssysteme zeigen, sondern auch für die Methode, mit der Bildungseinrichtungen geführt werden sollten. Sie muss diese Ideen mit Lehrplänen, Pädagogik und Leistungsfeststellung in Beziehung bringen.

  2. Lehrerbildung muss in eine besondere historische, politische und erzieherische Tradition und Umgebung hineingestellt werden. Lehrer arbeiten und reflektieren nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Sie handeln in Einrichtungen, Strukturen und Prozessen, die eine Bedeutung in Vergangenheit und Gesellschaft haben.

  3. Eine Theorie der Lehrerbildung muss wieder eine demokratische politische Tagesordnung herstellen und in der größeren Gesellschaft einen Kundenkreis für diese Arbeit entwickeln, um benötigte Veränderungen zustande zu bringen.

Die selben Spannungen, die den Lehrberuf und die Lehrerbildung betreffen, existieren auch in den Beispielen von Lehrerfort- und –weiterbildung. Es gibt verschiedene Fronten zwischen den Visionen, wie Lehrerbildung weiter entwickelt werden soll. Man sieht Lehrer nicht nur als Erfüller eines Lehrplans, den die Schulverwaltung erlassen hat, oder als Objekte der Bildungsforschung. Lehrer sollten eine aktivere Rolle als Entwickler des Lehrens spielen, und man sieht sie auch als mehr verantwortlich für die Entwicklung ihres eigenen Berufes in einem weiteren Sinn (Hargreaves A, 1994; Hargreaves D, 1994; Fullan, 1993; Lieberman, 1990; 1996; Oser, 1994, Niemi & Kohonen, 1995). Diese Ziele sollten sich in Lehrerbildungsprogrammen wiederspiegeln.

Wir können ein ungefähres Bild der letzten Trends in der Lehrerbildung mit zwei entgegengesetzten Richtungen in der Diskussion über die Lehrerbildung zeichnen. Der eine Trend geht auf mehr offene Verantwortlichkeit und Qualitätskontrolle der Lehrer und der Lehrerbildung. Die andere Richtung hebt die tiefere und weitere ethische Verantwortung hervor, die auf der beruflichen Rolle und Stellung der Lehrer beruhen sollte.

Wenn der Lehrer als ein Partner bei der Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten gesehen wird, sollten die folgenden Aspekte der Lehrerbildung betont werden (Niemi, 1996a):

Es gibt jedoch zahlreiche Beispiele entgegengesetzter Tendenzen in vielen Ländern, die eine zentralisiertere, kompetenzenorientierte Lehrerausbildung zu erreichen versuchen, die dazu dient, hauptsächlich technische Fertigkeiten zu erwerben. Diese Trends treiben Lehrer dazu, als Techniker oder Bürokraten zu arbeiten. Diese Stellung bringt folgende Eigenheiten mit sich (Niemi, 1996a):

Smyth (1995), Carr and Harnett (1996) und Wideen (1995) sind besorgt darüber, dass technisches Rationalisieren die vorherrschende Tendenz in der Lehrerbildung und Lehrerfortbildung geworden ist. Die Gefahr des technischen Rationalisierens als Bedrohung kommt nicht nur durch Forderungen von außen – zum Beispiel von der Schulverwaltung -, sondern wächst auch innerhalb der eigenen Tradition der Lehrerbildung. Dadurch dass sie sich nur auf die Ausbildung in technischen Fertigkeiten und Unterrichtsmanagement konzentrieren, haben Lehrer und Lehrerbildung ihre Kraft verloren, in eine tiefere gesellschaftliche und bildungspolitische Diskussion und in Bildungsreformen eingebunden zu werden. Hartnett und Carr (1995, S. 41) schlagen vor, dass in einer entwickelten demokratischen Gesellschaft die Lehrer eine kritisch reflektierende Gruppe sein sollten, der man schwierige und komplexe Aufgaben zu erfüllen gibt. Stellung, Prestige, Bildung und Fortbildung der Lehrer müssen die Komplexität und gesellschaftliche Bedeutung dieser Aufgaben wiederspiegeln.

5.2. Evaluation auf einer kommunikativen Ebene

Bei sich verändernden Bedingungen ist Evaluation ein wichtiges Werkzeug, um die Bildung an den Schulen und die Lehrerbildung weiterzuentwickeln. Evaluation sollte Wege für eine bessere Zukunft eröffnen, nicht nur rückwärts schauen. Sie sollte helfen, neue Bedürfnisse und Herausforderungen vorwegzunehmen. Wir sollten darauf abzielen vorauszusehen, in welcher Weise Lehrer und Lehrerbildner ihren Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft ausüben können. Die Ziele der Lehrerarbeit und der Lehrerbildung müssen eher als eine mehr oder minder ständige Diskussion gesehen werden als ein stabiler, fester Zustand.

Im finnischen Forschungsprojekt "Effektivität der Lehrerbildung" (1995-1998) wurde ein neuer Zugang zur Evaluation entwickelt. Die Absicht war, das Evaluationskonzept zu erweitern und es zu einem Werkzeug für eine ständige Entwicklung zu machen, und im Besonderen zu einem Werkzeug, zunehmende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Erziehungspartnern zu schaffen. Die theoretische Grundlage des Projektes ist in früheren Artikeln vorgestellt worden (Niemi, 1996b; Niemi, 1997; Niemi & Kemmis, 1999).

Das Projekt warf einen weiten Blick auf "Effektivität" und sah sie mit den Augen einer Vielfalt von Gruppen, die in verschiedener Art mit Lehrerbildung und ihren Ergebnissen in Verbindung stehen: Lehrer, Studenten in der Lehrerbildung, Schüler, Ministerialbeamte und eine Reihe von anderen einschlägigen Partnern (einschließlich Eltern, Geschäfts- und Arbeitsleben, Lehrergewerkschaften und anderen). Einige Teilstudien unter dem weiten Schirm des Forschungsprojektes sammelten quantitatives und qualitatives Beweismaterial, das sich auf die allgemeine Frage der Effektivität der Lehrerbildung auf gesellschaftlicher, kultureller und persönlicher Ebene bezog. Die Evaluation wollte nicht die Rolle eines Richters übernehmen, dadurch dass sie Lehrerbildungseinrichtungen oder Lehrerbildner reihte oder beschuldigte. Die Absicht der Erkenntnis war eine anteilnehmende und reflexiv-dialogische (Kemmis, 1995). Die ganze Zeit war ein wichtiges Ziel, die Kommunikation zwischen verschiedenen Gruppen und Außenstehenden zu aktivieren und aufzubauen und miteinander Fragen der Lehrerbildung zu thematisieren (Niemi & Kemmis, 1999).

Drei zentrale Aufgaben einer kommunikativen Evaluation wurden umrissen:

Die zentrale Absicht der Evaluation war es, Möglichkeiten zur Kommunikation über Themen und Fragen zu schaffen, indem sich bewegende Gesichtsfelder mit einander konfrontiert werden. Das Projekt organisierte viele Seminare über die Entwicklung der Lehrerbildung und brachte viele Veröffentlichungen über Lehrerbildung für verschiedene Zielgruppen in der finnischen Situation (z.B. Niemi & Tirri, 1997; Niemi, 1998).

Lehrer arbeiten nicht mehr in stabilen Zusammenhängen. Sie stehen vor einem sich bewegenden Gesichtsfeld (Niemi, 1999), in dem Veränderungen in gesellschaftlichen Werten und Familienbedingungen Realitäten im Klassenzimmer sind, und in dem die Strukturen in Bildung und Beruf, nationale und weltweite Krisen und die neuen technologischen Möglichkeiten sich schneller als je zuvor bewegen. Lehrer werden eine größere Bereitschaft brauchen, in Zusammenarbeit in der Schulgemeinschaft zu arbeiten, und sie werden mehr Vorbereitung benötigen, mit Außenstehenden, z.B. Eltern, Arbeitsleben, kulturellen und gesellschaftlichen Partnern, zusammenzuarbeiten. Lehrer brauchen die erforderlichen Fertigkeiten, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, wobei sie ihnen sogar mehr persönliche Unterstützung geben als früher. Aber sie brauchen zusätzlich Fertigkeiten, aus vielen Berufen bestehende Teams und freiwillige Gruppen in einer Bürgergesellschaft zu aktivieren, zu unterstützen und zusammenzubringen. Eine neue Identität eines Lehrers ist es, Organisator von Netzwerken von Erwachsenen zu sein, die das Lernen von Studenten in Schulen unterstützen und ermöglichen wollen, und kommunikative Evaluation kann ein nützliches Werkzeug beim Schaffen von Zusammenarbeit sein.

Kommunikative Evaluation zielt darauf ab, einen Raum für öffentliche Diskussion und Demokratie in spät- oder postmodernen Zeiten sich verschiebender Gesichtsfelder im gesellschaftlichen Leben zu schaffen. Evaluation kann "einen kommunikativen Raum öffnen", nicht nur um eine Reihe von Gruppen von Außenstehenden einzubinden, die mit besonderen gesellschaftlichen und erzieherischen Programmen verbunden sind, sondern auch um kommunikative Verbindungen mit anderen Gruppen, Bewegungen und Netzwerken der Kommunikation zu schaffen – Gruppen, Bewegungen und Netzwerken, deren Anliegen auf andere Themen konzentriert sind (wie Fragen der Geschlechter, sozialer Gerechtigkeit, Multikulturalität, Globalisierung, Veränderungen in der Form der Arbeit und der gesellschaftlichen Auswirkung neuer Technologien). Sie kann auch helfen, Probleme und Fragen unserer Zeit zu thematisieren, wenn sie im Zusammenhang mit einem speziellen Programm oder einer Situation auftauchen. Sie ist auch ein Mittel, die Situation mit ihren Werten und Normen zu verstehen und Bildung mit ihren ethischen und gesellschaftlichen Absichten in einer Gesellschaft zu verbinden.

6. Lehrer als Mitglieder eines Berufes von hoher Qualität

Lehrerbildung zeigt eine viel weitere Perspektive in dem Bezugsrahmen, in dem Lehrer eher als Vertreter eines Berufes von hoher ethischer Qualität gesehen werden denn als Vertreter eines technischen Handwerks. Im ersten Fall besteht die Notwendigkeit, dass Lehrer mit einer Sprache der Kritikfähigkeit und Fertigkeiten der Teilnahme ausgestattet werden, durch die es ein vernünftiges, moralisches und zielgerichtetes Engagement in der Umgestaltung der Bildung geben kann (Sultana, 1995, S. 141). Aronowitz & Giroux (1991, S. 108-109) beschreiben die Verantwortung von Lehrern in einer postmodernen Welt: Wenn Lehrer eine aktive Rolle beim Aufwerfen von ernsten Fragen darüber spielen sollen, was sie lehren, wie sie lehren sollen, und über die größeren Ziele, nach denen sie streben, bedeutet das, dass sie eine kritischere und mehr gesellschaftsbezogene Rolle dabei spielen müssen, das Wesen ihrer Arbeit zu definieren, ebenso wie dabei, die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, zu gestalten. Wir glauben, dass die Lehrer sich selbst als öffentliche Intellektuelle sehen müssen, die Konzeptbildung und Verwirklichung, Denken und Praxis mit Projekten verbinden, die im Kampf für eine Kultur der Befreiung und Gerechtigkeit begründet sind.

Das 21. Jahrhundert wird hohe Ansprüche an das Lernen stellen. Die Welt wird voll widersprüchlicher Trends und Spannungen sein, wie z.B. Globalisierung, Regionalisierung, Wertekonflikte und soziale Ungleichheiten. Veränderungen in der Lehrerrolle verursachen Stress unter Lehrern und sie brauchen Unterstützung für ihren eigenen beruflichen Wachstumsprozess und ihre Identitätsbildung während und nach der Lehrerbildung. Es gibt kein vorgegebenes Modell eines Lehrers, sondern verschiedene Spielarten von Vertretern eines ethischen Berufs. Es ist unmöglich, irgendeine gemeinsame Übereinstimmung darüber festzulegen, was ein richtiger Weg zu lehren oder zu lernen ist. Aber was wir mehr als je zuvor brauchen, ist Kommunikation über die Ziele und den Zweck von Schul- und Lehrerbildung. In Bürgergesellschaften müssen wir einen kommunikativen Raum für eine ständige Diskussion mit verschiedenen Partnern schaffen. Das ist eine Sphäre, wo wir Unsicherheiten teilen und Probleme miteinander thematisieren können. Lehrer sind Vertreter eines ethischen Berufes und sie haben eine wichtige Rolle im Verlauf der Verwirklichung von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten. Die zukünftige Umgestaltung der Lehrerbildung sollte in einer Linie mit diesen Zwecken sein.

Ljubljana 2000